Sachstands­bericht

Form follows function 01

Sachstands­bericht 01
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Die missverstandene Maxime des amerikanischen Architekten und Autoren Louis Henry Sullivan

Form follows function 01

Jedem dürfte sie bis heute bekannt sein, die beliebte Maxime des amerikanischen Architekten und Essayisten Louis Henry Sullivan. Sullivan war Architekt und Autor, dachte viel über den Sinn und die Bedeutung von architektonischer Gestaltung und Stadtplanung nach und schrieb auch darüber.

Louis Henry Sullivan -

Louis Henry Sullivan

Quelle: Louis H. Sullivan, Wikipedia

Unter Schönheit verstehe ich das Versprechen der Funktion; unter Aktion das Vorhandensein der Funktion; unter Charakter die Erinnerung an die Funktion.

H. Greenough

Einleitung

Thema:

Thema der Arbeit ist das bis heute bekannte Zitat Form ever follows function des amerikanischen Architekten und Essayisten Louis Henri Sullivan. Sullivans Hauptschaffenszeit fällt nahezu mit der Jahrhundertwende zusammen, einer Zeit, in der die Gesellschaft und die Künste rasanten Veränderungen unterlagen. Aus dieser Zeit ist bis heute ein ideologischer Slogan erhalten, der besonders unter Designern, aber auch unter Architekten seine Lebendigkeit und Aktualität behalten hat.

Ziele 

Was steckt hinter dieser unscheinbaren Formulierung 'form follows function', die sich mit 'die Form folgt der Funktion' übersetzen läßt? Was für ein Mensch und Architekt war Sullivan? Aus welchem Antrieb heraus verfaßte Sullivan diesen Gedanken? Womit begründete er seine Idee von der Abhängigkeit der Form? Gab es zu seiner Zeit künstlerische, gesellschaftliche oder technische Strömungen die ihn zu diesem Gedanken veranlaßten? 

Inwieweit setzt sich Sullivan selbst in seinem künstlerischen Schaffen mit seiner Forderung auseinander; halten seine Bauwerke, was seine Wünsche und Forderungen versprechen?

Aus heutiger Sicht des geschichtlichen Kontext; wie ist seine Formulierung, seine Idee zu verstehen; auf welche Produkte läßt sich seine Ideologie anwenden, auf welche nicht? 

Gibt es Produkte, in denen seine Ideologie erfolgreich in die Tat umgesetzt ist?

Zeittafel Louis H. Sullivan

1855 5. September Louis Henri Sullivan wird als Sohn von Andrienne Sullivan (geb. List) und Patrick Sullivan in Boston/Massachusetts geboren.

1860-70 Besuch des Gymnasiums in Boston.
Schriften, u.a. A System of Architectural Ornament.

1870 High School Boston.

1872-73 Besuch der Architekturvorlesungen des Massachusetts Institute of Technology (MIT); ohne
Abschluß verlassen; Zeichner im Büro von Furness und Hewitt in Philadelphia; Umsiedlung nach Chicago, Anstellung bei William Le Baron Jenney.

1874 Besuch der École des Beaux Arts; 2 Jahre im Atelier libre von Vaudremer; Besuch Italiens.

1876-79 Rückkehr nach Chicago, schließlich Anstellung im Büro Dankmar Adler.

1881 Partnerschaft Adler/Sullivan; in den folgenden 12 Jahren war dieses Architektenbüro das aktivste in Chicago; von 1880-1895 entwarf Sullivan mehr als 100 Gebäude.

1893 Transportation Building, Weltausstellung in Chicago.

1895 Auflösung der Partnerschaft mit Adler.

1895-1924 Sullivan arbeitet allein, zahlreiche Schriften, u.a. A System of Architectural Ornament

1924 Louis Henri Sullivan stirbt am 14. April in einem Hotelzimmer in Chicago.

Meine Theorie über das Bauen lautet wie folgt: Eine wissenschaftliche Anordnung der Räume und Formen in Anpassung an die Funktion und den Ort; Betonung der Elemente proportional zu ihrer Bedeutung in Bezug auf die Funktion; Farbe und Ornament müssen nach streng organischen Gesetzen bestimmt, ungewandt und variiert werden, wobei jeder einzelne Entschluss genau zu rechtfertigen ist; sofortige Verbannung jeglicher Fiktion.

Jacques Gréber

Situation

Der Jefferson'sche Demokratismus

Die zunehmende Industrialisierung und die rapide wachsende Zahl der städtischen Bevölkerung in Nordamerika macht es zu Beginn des 19ten Jahrhunderts nötig, neue Formen der Städteplanung und des Städtebaus zu entwickeln. Auch hier sollte für die Planung einer Großstadt gelten, was heute noch für das Zusammenleben der amerikanischen Bürger ein demokratischer Grundsatz ist, der vom Präsidenten und Architekten Thomas Jefferson geprägt wurde. So ist der „Plan von New York ... in etwa mit der amerikanischen Verfassung vergleichbar, bei der die Regeln des politischen Zusammenlebens so formuliert sind, daß sie der Initiative der Bürger ein Minimum an Beschränkung auferlegen, und gerade deswegen sind sie auf eine Reihe formaler Bestimmungen gebracht, deren Bedeutung nur verständlich ist in Verbindung mit dem Gebrauch, den man von ihnen gemacht hat und noch macht.“ (Quelle 4)

Der Plan von New York

1811 entwickelte die Morris-Kommission einen Schachbrettplan (Abb. 1) für die Stadt New York, der eine riesige Fläche gleichförmig und rechtwinklig, perspektiv- und orientierungslos in gleichgroße Parzellen gliederte, auf denen nun gebaut werden konnte, was nötig war, Wohnhäuser, Büros, Supermärkte, Verwaltungsgebäude, Theater etc.
Um dieses städtebauliche Muster verstehen zu können, muß man in die amerikanische Kolonialzeit zurückschauen, als der amerikanische Kontinent unter Berücksichtigung von Längen- und Breitengraden ebenfalls in gleichförmige recht winklige Parzellen aufgeteilt wurde. Bundesstaaten,  die man noch nicht kannte und denen man deshalb auch keine naturgemäße oder kultur- oder funktionsgerechte Form geben konnte, mußten zur Besiedlung trotzdem aufgeteilt werden. Wie man bei den Staaten noch keine Entwicklung vorausahnen, vorwegnehmen konnte, so war dies auch nicht bei der Planung von Städten, und ebenfalls nicht bei der Planung von gewaltigen Hochhäusern möglich. Da man keine Nutzung kannte, in die Zukunft nicht schauen konnte, gab man den Staaten, Städten und Gebäuden Formen, die später alles beinhalten konnten, Industrie, Büros oder Wohnungen. Der Plan war zugleich sehr präzise, in dem er die Fläche der Stadt mit orthogonalen Straßen (“... und wenn sich die Straßen im rechten Winkel schneiden, seien die Häuser weniger teuer zu bauen und das Leben in ihnen bequemer”).) in gleichförmige Parzellen aufteilte, andererseits ließ er die Nutzung dieser Kleinflächen völlig offen. “Welche Objekte auf die einzelnen Baugelände kommen sollen, wird im voraus weder gesagt noch bestimmt, praktisch können sie jederzeit wechseln; unverändert hingegen bleibt die schachbrettartige Unterteilung des Geländes in einer gegebenen Maßeinheit sowie die feststehende Numerierung jedes Feldes ..." Quelle 6. 
Da man nicht weiß wie sich ein Bezirk entwickeln wird, ordnet man ihm auch keine bestimmten Funktionen zu, in seiner perfekten Ordnung wird der Plan in seiner realen Umsetzung zu einer unordentlichen Stadt, da “die moderne Stadt nicht hauptsächlich aus Wohnhäusern besteht, sondern aus vielem anderen: Eisenbahnen, Märkten, Kaufhäusern, Büros, Krankenhäusern, Theatern, Kinos, Parkplätzen und so fort, die unterschiedliche Ausmaße und Erfordernisse haben.” 
Obwohl diese Stadtpläne eine Menge von Problemen heraufbeschworen, die sich heute am "lebendigen' Objekt studieren lassen können, wird aus ihnen "einer der wesentlichsten Züge amerikanischer Tradition sichtbar. Manche Elemente sind starr und unveränderlich festgelegt, aber nur soviel es erforderlich ist, um einen gemeinsamen und unumstrittenen Anhaltspunkt zu haben, auf dieser Grundlage kann sich alles andere frei und ungehemmt entfalten” Quelle 8.
Vielleicht nimmt der, weder barocken Perspektiv noch chaotischen, stadtlabyrinthischen Herkunftsgesetzen gehorchende Plan einer Stadt in gewisser Weise den Plan eines Hochhauses vorweg. Auch bei den wenig später zuerst in Nordamerika gebauten Wolkenkratzern waren es Gebilde aus gleichgroß und gleichförmig gestalteten Räumen (Flächen), die durch zwar konstruktive, aber nicht durch sinnstiftende und ordnende Regeln zusammengehalten wurden. Hier galt, daß entsprechend dem großen Bedarf an Büroflächen diese massenhaft zu Verfügung gestellt werden mußten, aber nun ein kleiner und teurer Bauplatz irgendwie räumlich in gleich große Räume (Parzellen) aufgeteilt werden mußte. So setzte man gleichförmig Etage um Etage aufeinander, wobei man zunächst noch versuchte, die klassische Gliederung eines Baus beizubehalten, indem man die vielen Etagen auf einem von Bögen getragenem Fundament ruhen ließ und den ganzen Bau mit einem romanisch angehauchtem Giebel krönte.

Abb. 3.5: Abb. 4

Testmarginalie

Um die ID der Großeltern-Ressource, also der Eltern-Ressource der Eltern-Ressource, zu bekommen, ist folgendes Snippet hilfreich:

Chicago

Zur Zeit, da Louis H. Sullivan sein Studium am MIT antrat, wurde das überwiegend aus Holz gebaute Chicago durch einen Brand 1871 fast völlig zerstört.

Der zuerst nur zögerlich vorankommende Wiederaufbau der Stadt wurde zwischen 1880 und 1890 intensiv gefördert, die Stadt boomte. Immer teurere Grundstückspreise im Zentrum der Stadt ließen nur noch die Errichtung von Bürogebäuden sinnvoll erscheinen. Die fortschreitende Industrialisierung wollte verwaltet werden. Eine der wichtigsten Aufgaben der Architekten dieser Zeit war die Errichtung von Büro- und Geschäftshäusern. Das Werk der Architekten dieser Zeit, u.a. W. Le Baron Jenney, W.W. Boyington, D.H.Burnham, J.W. Root, W. Holabird, M. Roche und L.H. Sullivan ist von ausgesprochen einheitlichem Charakter,  besonders in einem Stadtviertel Chicagos, dem Loop. Der Aufgabe, neue Büro- und Verwaltungspaläste zu bauen, nahmen sich die Architekten dieser Zeit mit Begeisterung an. Le Baron Jenney perfektionierte das  Stahlskelett, mit dem es zum ersten Mal möglich war, größere Höhen zu bauen, ohne eine übermäßige Verstärkung der Stützen in den unteren Bereichen vornehmen zu müssen. Viele der Künstler hatten in Paris studiert, da es zu dieser Zeit noch keine Architektenausbildung in den Vereinigten Staaten gab, so brachte ein „Institut wie die Pariser Ecole des Beaux Arts, das gemeinhin als konservativ gilt, ... Architekten hervor, die sich auf den großen Stil verstanden und sich zugleich die neuesten bautechnischen Errungenschaften zunutze machten”. Quelle 9.

Neben den konstruktiven baustatischen Neuerungen waren es andere, typisch amerikanische Erfindungen, die den Bau des vielstöckigen Hochhauses vorantrieben.

„Verdankten die Hallen dem zugfesten Material ihre Raumweiten, so verhalf die Stahlskelettkonstruktion zusammen mit einer neuen Hausinstallationstechnik wie Lift, Elektroversorgung, Telefon, Klimatisierung, Sanitäranlagen auch zur Höhenentwicklung. Hier wie dort wurde Masse durch Linien und Punkte, nämlich durch stabförmige Elemente, knotenförmige Verbindungen und punktartige Lastabtragungen ersetzt“ Quelle 10

Die Architekten hatten an der Pariser École gelernt, eindrucksvolle Wirkungen zu erzielen, „aber auch auf rationale Planung (zu achten. Anm. d. Verf.]“ Der Grundriß war der Ausgangspunkt - so sehr, daß ein berühmter Lehrer der Ecole, Victor Laloux, seine Schüler die Fassaden erst zuletzt zeichnen ließ. Verkehrswegen innerhalb des Gebäudes wurde besondere Aufmerksamkeit zugewendet, wenn es auch nicht um ökonomische Wegführung, sondern um imposante Raumabfolgen ging. Sogar die Forderung, daß sich die inneren Zweckbestimmungen in den äußeren Volumen spiegeln müßten, spielte eine Rolle. Quelle 11. 
Wie der Schachbrettplan einer Großstadt (New York) ist auch der amerikanische Wolkenkratzer ein typisch amerikanisches, abstrahierendes Verfahren, die Funktion der Architektur, des Bau künstlerischen also wird nicht mehr nur im Form stiftenden und Gestalterischen gesehen, der Entwurf eines Wolkenkratzers ist eine arithmethische Ope
ration, und wie F. L. Wright einmal sagte, „ein mechanischer Kniff, um jene Bauplätze zu vermehren, die so oft Geld einbringen, wie es möglich ist, das Baugelände des ursprünglichen Grundstückes zu verkaufen und wiederzuverkaufen“. Quelle 12. Der Wolkenkratzer war eine Möglichkeit, die Architektur mit den Anforderungen der industriellen Gesellschaft in Einklang zu bringen.

Der Wolkenkratzer

Zum ersten Mal in der Welt wächst 1890 ein Bürogebäude bis zu 16 Stockwerken empor, das komplett von einem, zwar mit Steinen verkleideten Stahlskelett getragen wird. Das Problem der Architekten dieser Zeit besteht darin, daß der Wolkenkratzer bis dahin nicht gekannte architektonische und formale Elemente enthält, die mit den in jener Zeit vorhandenen architektonischen Mitteln nicht gelöst werden konnten. Klassische Gliederungen eines Baus konnten auf ein Gebäude, das aus immer wieder gleichen, sich wiederholenden Elementen bestand, nicht angewandt werden. Neue technische Funktionen, neue Installationstechniken und Betriebsanlagen wie Aufzüge, mit denen die schnelle und rationelle Durchquerung der gestapelten Etagen nur möglich war, und Klimaanlagen, die die Lüftung großer geschlossener Büroetagen ermöglichten, waren neue Herausforderungen an die Architekten jener Zeit, und sie wurden ihrer nur begrenzt gerecht, wie Gréber 1920 schreibt: "Ursprünglich sollte ein Geschäftsgebäude wie ein einfacher Block aussehen,  ausgestattet mit Bürozellen (loft) und gekrönt von einem kunstvoll 

gearbeiteten Gesims, so war sein Außeres sozusagen die Karikatur seiner inneren Bestimmung. Die Mängel dieses gewollten Fehlens architektonischer Umsicht wurden noch betont durch das Erscheinen zahlreicher Betriebsanlagen auf der Dachterasse, Reservoirs, Liftkabinen, Belüftungsanlagen usw., die angeblich nicht zu sehen waren, in Wirklichkeit jedoch keineswegs ausreichend verdeckt werden konnten; diese maschinellen Teile kontrastierten mitunter ganz naiv zu den Fassaden im florentinischen Stil. Der große Fortschritt, der in der Folgezeit beim Bau von Geschäftshäusern erzielt wurde, bestand darin, daß man das distributive Programm architektonisch ausnützte und Turmbauten errichtete, deren Spitzen dazu dienten, die Betriebsanlagen zu schützen und zu tarnen, was dem Aussehen des Gebäudes sehr zu gute kam. Das große Problem der zu vielen Fenster, die von weitem diese Blöcke wie riesige Waben erscheinen lassen, wurde ziemlich glücklich gelöst dadurch, daß man die Fenster mittels starker Rippen, welche die Senkrechte und daher auch den imponierenden Aspekts des Turmes betonen, vertikal zusammenfaßt“. Quelle 13

Diese hier genannten formalen Möglichkeiten standen den Architekten des Chicago vor der Jahrhundertwende noch nicht zur Verfügung. Individuelle Erfahrungen der einzelnen Architekten schienen zunächst eine Entwicklung zu einem neuen, den Anforderungen entsprechenden Baustil zu fördern, durch den Erfolg der neoklassizistisch geprägten Chicagoer Weltausstellung von 1893 erfuhr diese Entwicklung einen Rückschlag; auch Louis H. Sullivan, dessen Arbeit von einer sehr persönlichen und der Natur verhafteten Sicht geprägt war, hatte unter den Folgen der Ausstellung zu  leiden, weil er nicht bereit war, sich den Wünschen der Kunden anzupassen. Sullivan bezeichnete das Werk der anderen Architekten auch einmal „als pervers, da sie die Stahlrahmen-Funktion in einer gemauerten Form benutzten; wie grotesk das sei, begreife man am besten, wenn man versucht sich Pferde-Adler oder Tarantel-Kartoffeln vorzustellen“. Quelle 14.

Die Schönheit kommt nicht auf gesetzlichen Befehl,
noch wird sich die Geschichte,
wie sie sich in Griechenland abgespielt hat,
in England oder Amerika wiederholen.
Sie wird, wie immer,
ohne vorherige Ankündigung erscheinen
und in den Fußstapfen tapferer
und ernsthafter Menschen aufblühen. 15

Ralph Waldo Emerson

Louis H. Sullivan

Einflüsse

In Sullivans literarischem und architektonischem Schaffen drückt sich der Wunsch aus, die technische Wissenschaft mit der romantischen Natur zu verbinden. Während seiner Kindheit und Jugend verbrachte Louis H. Sullivan seine Zeit wechselnd
auf dem Land und in der Stadt. Die Zeit auf dem Lande begann er mit Naturstudien und der Entdeckung des Mythischen in der Natur zu verbringen, die Stadt diente ihm dazu die Möglichkeiten des menschlichen Schaffens zu entdecken, er beobachtete die Arbeiten in einer Werft; Brücken und ab seinem 12ten Lebensjahr Architektur, interessierten ihn. Vielleicht war es diese Ambivalenz seines naturverbundenen und technikinteressierten Lebens, die dazu führte, daß er sich in Studien und in seinem Studium zunächst am MIT und später an der École des Beaux Arts so für Architektur und das Bauen interessierte. Schon als Junge faszinierte ihn der Brückenbau, er war nach Aussage seiner Biographie enttäuscht, wenn eine Brücke nicht so elegant war, wie er sich das vorstellte. "Warum konnte eine Brücke ihre Aufgabe nicht mit Stolz vollbringen?" Quelle 16 
Wesentliche Erkenntnisse seiner Ausbildung in Paris waren die Fähigkeit, Geschichte zu beleben, in wissenschaftlichen Arbeiten einen Beweis mit einer persönlichen Behauptung zu beginnen, zu dem setzte sich die Erkenntnis durch, daß Architektur nichts Festes sei, sondern unaufhörlich aus der unendlichen Vorstellungskraft des Menschen ströme, hervorgerufen durch seine Bedürfnisse, und auf diese galt es als Architekt Rücksicht zu nehmen. Die Architektur folgt der Funktion, einer Funktion die von den Wünschen der Menschen abhängt, die in einem Gebäude leben, arbeiten, die es nutzen.

Tätigkeit

Vier Jahre nach dem großen Brand von Chicago kehrte Sullivan nach Chicago zurück, die Situation die er vorfand war geprägt von einem Wuchern der Stadt an der Peripherie und einer Verdichtung der Stadt im Zentrum. Das Zentrum der 1871 zerstörten Stadt diente als Bauplatz für die damals bedeutsamsten Architekturbüros. Chicago befand sich wie der ganze Osten der Vereinigten Staaten von Amerika in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Architekten kennzeichnete eine gute technische Ausbildung, gleichzeitig fehlte ihnen die bindende, ständig vor Augen stehende architektonische Tradition ihrer Kollegen in Europa. Zu der Zeit, als Sullivan mit etwas mehr als 18 Jahren in einem Chicagoer Büro anfing, errichtete Le Baron Jenney seinen ersten reinen Stahlskelettbau; in der Mitte Chicagos ist eine riesige Freifläche konzentriert zu bebauen; neue technische Entwicklungen beeinflußen die Funktion und die Konstruktion eines Bauwerks. Die noch junge amerikanische Tradtion des Fertigteilbaus, der aus der Holzkonstruktion stammt, perfektioniert sich im
Stahlskelettbau, erstmals können Außenwände fortlaufend mit Glasscheiben unterbrochen werden, 1864 erscheint der erste dampfbetriebene Aufzug, 1870 der erste hydraulische und 1887 der erste elektrische Aufzug in Chicago. Zunächst arbeitete Sullivan für den Werksleiter von Le Baron Jenney. „Er weitete Sullivans Idee der Funktion aus, verweilte zuerst flüchtig beim Studium der Botanik, bei der Erklärung seiner eigenen Theorie der unterdrückten Funktionen - der psychologischen und metaphysischen Ursachen der Triebe (wie Sullivan die Funktion ebenfalls nannte), die Formen notwendig machte”. Quelle 17
Da nicht für jedes Projekt ein neuer Baustil entwickelt werden mußte, ließen sich die Projekte in beliebig viele Einzelteile zerlegen. Die Arbeit in den Büros ließ sich stark arbeitsteilig gestalten. Sullivan wurde Teilhaber in Dankmar Adlers Büro; 

Adler war ein Architekt, für den ein Gebäude in erster Linie ein technisches Problem und eine finanzielle Angelegenheit bedeutete. Im Gegensatz zu Adler war Sullivan ein Liebhaber der feinen Künste, der Musik und der Poesie, der aber vor allem der Ansicht war, er müsse ganz anders bauen als seine Zeitgenossen. Das erste große Projekt, das Adler und Sullivan gemeinsam planen, ist das Auditorium-Gebäude, 1887, das im Vergleich zu den Bestrebungen der örtlichen Architekten zunächst einen Rückschritt darzustellen scheint. Die Fassade des Mehrzweckgebäudes gliedert sich in vier Zonen, die nach oben schmaler werdenden Bögen erzeugen eine sich verjüngende Perspektive. Das Fundament wird in seiner Masse betont, die Zwischenzone und das Dachgeschoß in in die Gestaltung der Fassade integriert (Abb. 5 und 6). Trotzdem ist die Fassade, ist das Gebäude nicht ein Bild seiner inneren funktionalen Struktur, sondern eine Aufteilung mit den Möglichkeiten des in Paris erlernten Eklektizismus. W. J. Root schreibt zur inneren Struktur und den sozialen und wirtschaftlichen Zwängen beim Gestalten der Gebäude: „Es war schlimmer als überflüssig, eine Fülle zarter Ornamente an sie (die modernen vielstöckigen zarter Ornamente an sie (die modernen vielstöckigen Bauten) zu verschwenden ... Sie mußten vielmehr mit ihrer Masse und ihren Proportionen in einem elementaren Gefühlsüberschwang eine Vorstellung von den großen, dauerhaften, bewahrenden Kräften der modernen Kultur vermitteln. Ein Resultat der Methoden wie ich sie angegeben habe, wird die Zerlegung unserer Bauprojekte in ihre wesentlichen Elemente sein. Die innere Struktur dieser Bauten ist derart lebenswichtig geworden, daß sie unbedingt den allgemeinen Charakter der äußeren Formen zu bestimmen hat; außerdem sind die kommerziellen und konstruktiven Anforderungen so beherrschend geworden, daß alle baulichen Details, die ihnen Ausdruck verleihen sollen, entsprechend verändert werden müssen. Unter diesen Bedingungen sind wir gezwungen, präzise und mit präzisen Zielsetzungen zu arbeiten, den Geist der Zeit voll und ganz auf uns wirken zu lassen, damit wir imstande sind, ihrer Architektur künstlerische Formen zu geben" Quelle 18.

Abb. 4.4: Abb. 7

Erst später erkennt Sullivan, "daß die perspektivische Komposition gewissermaßen naturgegeben und infolgedessen mit der funktionellen Natur des Themas in Einklang zu bringen sei. Anscheinend hat er eine von den objektiven Erfordernissen bestimmte Architektur im Sinn, wobei er der Phantasie lediglich die Aufgabe überläßt, die  grundlegenden Wesenszüge des Gebäudes suggestiv herauszuarbeiten. Als er sich jedoch später eingehender mit dem Thema beschäftigt, merkt er, daß seine theoretische Beschreibung ihn zu einer noch nicht dagewesenen Ausdrucksweise führt, während der wiederkehrende Rhythmus der uniformen Stockwerke unvereinbar ist mit der geschlossenen, in Fundament, Zwischenzone und Dachgeschoß aufgelösten Komposition" Quelle 19.
Sullivan nimmt richtig an, daß das Wesen eines Wolkenkratzers darin besteht, daß er viele gleiche Stockwerke hat, die mit Ausnahme des einen oder der zwei Untergeschosse, die das Fundament des Gebäudes bilden, alle gleich ausgestaltet sind. Wenn aber die Anzahl der Zwischengeschosse zwischen Fundament und Dach beliebig ist, kann es keine sinnvolle formale perspektivische Gliederung der Fassade geben. "Darüber, für die nicht festgelegte Anzahl von Bürofluchten, gehen wir aus von der Einzelzelle, für die Fenster, eine Schwelle, und ein Architrav benötigt werden, und ohne uns weiter den Kopf zu zerbrechen, geben wir allen die gleiche Gestalt, da allen ja die gleiche Funktion zukommt“. Quelle 20.  
Der Gedanke des Wolkenkratzers führt folgerichtig zu einer ganz neuen, perspektivlosen Fassadengestaltung, dies setzt sich architektonisch aber erst sehr viel später durch, weil ein Architekt wie Sullivan, seine Theorie nicht konsequent in die Praxis umsetzen kann. „... aber den Übergang von der Theorie zur Praxis beherrscht eine fundamentale Unsicherheit, die letzten Endes die Ursache seines beruflichen Scheiterns ist“. Quelle 21

Jahrzehnte später greift Mies van der Rohe „eine Möglichkeit wieder auf, die schon von den Meistern der Schule von Chicago erprobt, von Sullivan fallengelassen worden und seitdem in den Hintergrund geblieben war: der Begriff des vielstöckigen Gebäudes nicht als geschlossener und perspektivisch einheitlicher Organismus, den man durch Differenzierung der verschiedenen Höhenzonen und durch Akzentuierung der vertikalen Bindungen zu lösen versuchte, sondern als offenen rhythmischen Organismus, gebildet durch die Wiederholung vieler gleicher Elemente. Diese Möglichkeit erlaubt, mit einem Schlage den kompositorischen Kontrast zwischen dem Maßstab des Ganzen und dem der Einzelheiten aus der Welt zu schaffen, da ja die proportionalen Erwägungen beim Einzelelement haltmachen, die Gesamtkomposition hängt von ganz anderen Kriterien ab, sie zieht sich nicht aus sich selbst zurück, sondern setzt sich in Beziehung zur unendlichen Landschaft ...“. Quelle 22.

Trotzdem kommt Sullivan zu einer sehr eigenwilligen und persönlichen Interpretation des Wolkenkratzers. Bei ihm führt der Gedanke der Wiederholung immer gleicher Etagen und Räume zu einer stark vertikalen Ausrichtung der Fassade, wie man sie auch beim Guarantee Building in Buffalo erkennen kann (Abb. 7).

Abb. 4.5: Abb.8

Beim zwischen 1899 und 1904 errichteten Kaufhaus Carson, Pirie und Scott sieht sich Sullivan veranlaßt, mehr als sonst die Gleichförmigkeit der sich wiederholenden Fassadenelemente und besonders der Fenster zu wiederholen. „Hier wird die netzförmige Innenstruktur ganz einfach nach Außen projiziert, ohne jeden vertikalen oder horizontalen Zwang, und nachdem die Massenverhältnisse gelockert wurden, wird wie bei den Jugendwerken eine überreiche Dekoration angebracht, um das Fundament gegen den Hauptteil des Gebäudes abzusetzen“. Quelle 23

Die durch den Stahlskelettbau begründete vertikale und horizontale Gliederung und die Einheitlichkeit und Gleichheit der hinter der Fassade befindlichen konstruktiven und funktionalen Elemente findet sich außen wieder (Abb. 8). In seinem Essay „Das große Bürogebäude, künstlerisch betrachtet“ schreibt Sullivan, als Reaktion auf die Kritik seiner Kollegen, als Verteidigung seiner eigenen Ideen und mit einem gewissen lehrhaften und missionarischen Tonfall: „Jedes Ding in der Natur hat eine Gestalt, daß heißt eine Form, eine äußere Erscheinung, durch die wir wissen was es bedeutet, und die es von uns selbst und von allen anderen Dingen unterscheidet. In der Natur bringen diese Formen das innere Leben, den eingeborenen Wert der Geschöpfe oder der Pflanzen, die sie darstellen, zum Ausdruck; sie sind so charakteristisch und unverkennbar, daß wir ganz einfach sagen, es sei natürlich, daß sie so sind. ... Dem, der auf dem Ufer der Dinge steht und unverwandt und voll Liebe dorthin blickt, wo die Sonne scheint und wo, wie wir glücklich empfinden, das Leben ist, füllt sich das Herz beständig mit Freude über die Schönheit und die Ungezwungenheit, mit der das Leben seine Formen sucht und findet - in vollkommener Übereinstimmung mit den Bedürfnissen. Immer scheint es, als seien Leben und Form ganz und gar eins und unzertrennlich, so vollendet ist die Erfüllung.“ Quelle 24

Ornament und Detail

Betrachtet man die von Sullivan entworfenen und unter seiner architektonischen Leitung errichteten Gebäude, so fallen die manchmal appliziert wirkenden Ornamente auf. Während in seinem frühen Schaffen das Ornament intergrativer Bestandteil zu sein scheint, in dem es in Bändern an Säulen und Friesen entlang zu laufen scheint, so ist später zu sehen, daß sich das Ornament plastisch und farbig deutlich vom Untergrund abhebt. Sullivan schien das Ornament zu benutzen, um die räumliche Ausdehnung eines Gebäudes zu einem Ganzen zusammenzufassen. Die bandartigen Ornamente scheinen dies zu unterstützen. In seinen späten Werken, besonders bei den klein dimensionierten Bankgebäuden im Mittleren Westen steht das Ornament im Kontrast zum dahinter liegenden Präzisionsmauerwerk. Es hebt sich augenfällig von diesem ab. Lauren S. Weingarden schreibt, daß Sullivan das Ornament als Hinweis auf die Natur als Quell künstlerischer Inspiration diente. Es kann, so glaube ich, auch eine soziale und kulturelle Funktion in der Stadt ausgeübt haben, in dem es (das Ornament) als kleinmaßstäbliche Gliederung einer Fassade diente, die auch für den Fußgänger eine noch überblickbare anschauliche Dimension hatte. Da es auf jeden Fall eine verzierende Funktion hat, nützt Sullivan sie um den Betrachter auf die Natur zu verweisen. (s.o.)

Gleichzeitig wirkt er der Anonymität des Bauens entgegen, entwickelt ein eigenes System der Ornamentik (A System of Architctural Ornament, 1922-24), bewirkt, daß das einzelne Gebäude sich aus der Masse des städtischen Volumens heraushebt. „Die schnellen Fortbewegungsmittel wie Eisenbahn und Auto und der hektische Rhythmus einer modernen Großstadt erlaubten nicht mehr die Betrachtung von Details.“ Quelle 25. Ein Gebäude muß so
gestaltet sein, daß aus jedem Abstand betrachtet ein Gebäude wiedererkannt, als individuelles Gebilde wahrgenommen werden kann. Jeder kennt das selbst; mit unterschiedlichen und wachsenden Bewegungstempi nimmt die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Details ab. Vielleicht wollte Sullivan dem entgegenwirken, in dem er die Fassade unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Betrachtungsabstände gestaltete? „Die Masse, die einfache und leicht begreifbare Silhouette sind es, die das Gefühl stimulieren und die Schönheit ausmachen werden. Das Haus erscheint nur noch als ein sehr kleines Element der Straße, ... und die Straße ist ihrerseits nur ein Detail im Organismus der Stadt“. Quelle 26

Ob wir an den im Flug gleitenden Adler, die geöffnete Apfelblüte, das schwer sich abmühende Zugpferd, den majestätischen Schwan, die weit ihre Äste breitende Eiche, den Grund des sich windenden Stroms, die ziehenden Wolken oder die über allem strahlende Sonne denken: immer folgt die Form der Funktion - und das ist das Gesetz. Wo die Funktion sich nicht ändert, ändert sich auch die Form nicht. Die Granitfelsen und die träumenden Hügel bleiben immer dieselben; der Blitz springt ins Leben, nimmt Gestalt an und stirbt in einem Augenblick. Es ist das Gesetz aller organischen, anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, daß das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, daß die Form immer der Funktion folgt. Das ist Gesetz. Quelle 27

Louis Henry Sullivan

“Form follows Function”

Zunächst nahm Sullivan mit seiner bis heute aktuellen Ideologie ‘form follows function' nur Bezug auf das Bürogebäude. Sein Essay ist zugleich Erwiderung auf die Kritik seiner Gegner, zugleich aber auch Ermahnung und Aufruf, es ihm gleich zu tun, zu gestalten, unter der Prämisse, daß zunächst die Gestaltung der Funktion der Form folgt und schließlich bei unveränderter Funktion auch die Form unverändert bleiben müsse. 

Diese auf die Gestaltung eines Bürogebäudes bezogene Ideologie überträgt Sullivan, haben unzählige weitere Autoren, Design- und Architekturkritiker allgemein auf Design und Architektur übertragen. Im Bauhaus galt auch, daß sich die Gestalt eines Gegenstandes nicht ändere, wenn sich Material, Herstellungsverfahren und Zweck nicht änderten. Dies kann man als erweiterten Sullivanschen  Funktionalismus betrachten. Der Duden schreibt zum Begriff Funktionalismus: „... ausschließliche Berücksichtigung des Gebrauchszweckes bei der Gestaltung von Gebäuden der Sonne. Fiir die Sullivan vorbildstiftende Natur unter Verzicht auf jedwede zweckfremde Verformung...“. Quelle 28 Der Begriff der Funktion kann verschiedenste Teile beinhalten, eine Produktgestalt oder ein Gebäude können eine technische, eine ästhetische, eine ergonomische (Produkt), eine gesellschaftliche, eine ökonomische, eine politische, eine persönliche, eine individuelle, eine emotionale, eine ökologische Funktion erfüllen, um hier einige, die mir einfallen zu nennen.
Der Funktionalismus des Bauhauses oder der der Ulmer Hochschule erwecken oft den Anschein, als ob hier bei der Gestaltung nur technische, ergonomische ("handhaberische') und zweckbezogene Funktionen des Gebrauchs eine Rolle spielten. Emotionale, humane Funktionen scheinen außen vor.

Sullivan entnimmt sein Verständnis der Formen der Natur; er erwähnt Tiere, Pflanzen, Berge und Blitze, den ganzen Reigen der Natur, so wie wir ihn wahrnehmen. Und die Natur erfüllt Funktionen, die uns Gebäude oder Produkte oftmals nicht erfüllen können. Wir können uns in der Natur erholen, unter anderem von ihr leben, denn wir trinken Wasser und essen Pflanzen und Tiere. Wir atmen Luft und leben dankbar (hoffentlich) unter den wärmenden Strahlen der Sonne. Für die Sullivan vorbildstiftende gilt, daß wir mit ihr, in ihr und von ihr leben, existierte sie nicht, würde das Leben sterben. In der Natur wohnt, wie ich Sullivan verstehe, ein ihr eigener Zweck, ein Sinn; allen Dingen ist eine innere Funktion immanent, die sich in ihrer Form ausdrückt. Die sprachlichen Mittel, die Form, in der Sullivan dies ausdrückt und die Bilder, mit denen er arbeitet, romantisieren dieses Bild, geben es aber klar und unmißverständlich wieder.

Ich glaube zu verstehen was er meint, und möchte dies darauf reduzieren zu sagen, die Natur lebt, und dieses Leben drückt sich in, evolutionär entwickelten, dem Leben angepaßten Formen aus. Egal ob dies eine Pflanze oder ein Tier ist. Kay Bojsen sagte einmal: „Linien müssen Lächeln. Leben, Blut und Herz muß in den Dingen sein, und man soll sie gern in der Hand halten. Menschlich sollen sie sein, warm und lebendig“. (Kay Bojsen) Quelle 29. Leben muß in den Dingen sein, und die Form richtet sich nach der Funktion dieses Lebens. Es ist aber nicht nur die Funktion, die sich in der Form wiederfindet, in meinem Verständnis ist es auch unbedingt das Leben, sind es mit dem Leben verbundene Emotionen, Ausstrahlungen, Aktivitäten, die eine Form zeigen sollte. Sullivan schildert wie die verschiedenen Aufgaben eines Bürogebäudes sich in der Fassade, in der äußeren Form wiederfinden. Die unteren zwei Etagen haben einen besonderen funktionalen Charakter, ihre Form muß von der Form der übrigen Etagen abweichen. Der Unterschied besteht nicht nur in den verschiedenen Tätigkeiten, die in den verschiedenen Etagen ausgeübt werden (Leben), sondern auch in der Kraft und der Bedeutung, die den einzelnen Teilen gegeben wird. 

Sullivan ermittelt eine innere Funktion des Gebäudes und leitet von diesem Innenleben eine Form ab, adäquat zur Natur. Ist dieses Gesetz heute noch auf die Gestaltung von Gebäuden und Produkten anwendbar? Wurde und wird dieses Prinzip in Architektur und Design angewendet?

Aktueller Kontext:

Abb. 6.5: Abb. 11

1. Beispiel Lloyds London

Das vom Briten Richard Rogers entworfene Gebäude des Versicherungsmarktes Lloyd's London zeigt sein Innenleben außen. Ähnlich wie das Centre Pompidou in Paris sind Transportmittel von Innen nach Außen verlegt, die Aufzüge fahren nicht im, sondern außen am Gebäude, hier sind auch sämtliche Installationen verlegt. Die Konstruktion des Gebäudes ist offen ausgebildet, Träger und andere konstruktive Elemente sind zu sehen, den einzelnen Gebäudeteilen sind unterschiedliche, differenzierte Formen gegeben. Was man nicht sehen kann ist, daß es sich hier um das Gebäude eines Versicherungsmarktes handelt, welche Gebäudeteile welche Funktionen übernehmen, wo welcher Bereich des Unternehmens untergebracht ist. Die Form des Gebäudes sagt viel über den technischen Aufbau, über technische Funktionen aus, von den Innen stattfindenden Tätigkeiten und einer entsprechenden Form ist auf den ersten Blick nichts zu sehen. Dennoch ist das Gebäude funktional in Blöcke gegliedert. Für Lloyds London hat Sullivans Prinzip Gültigkeit, vom Leben, von den vielfältigen Funktionen, die diese Form erfüllt, ist viel zu sehen. (Abb. 11)

Abb. 6.6: Abb. 15

2. Beispiel Braun Design

Das Design der Geräte der Braun AG, Kronberg unterliegt strengen formalen Kriterien. In den fünfziger und sechziger Jahren galt Braun Design als Inbegriff des guten Produktgestaltung. 'Form follows function' schrieb Sullivan 1896, er meinte, daß die äußere Form dem ‘Innenleben' eines Produktes folgt. Ob Radiogerät SK 1 (Abb. 12), Koffertransistor T 1/2/23 (Abb. 13), Phonosuper SK 4/SK 5 (Abb. 14), Hifi-Stereo-Anlage atelier 1 (Abb. 15) oder Heizlüfter H 1 (Abb. 16) der Braun AG, ihnen ist gemein, daß man vom Innenleben nichts sieht oder nur durch vorherige Objektkenntnis weiß, was in ihnen steckt. Wie soll man wissen, das erstgenanntes Produkt ein Radio ist, es könnte ebensogut ein Meßgerät oder ein Steuerungsgerät sein. Dies gilt für viele der abgebildeten Produkte, die äußere Gestalt ist unabhängig von der inneren Funktion. Und Leben im Sinne Sullivans, also eine Ansprache unserer Gefühle, davon kann für mich persönlich hier keine Aussage sein.

3. Beispiel Kommunikationstechnologie

Ein gutes Beispiel für die Grenzen Sullivan'scher Ideologie ist die Gestaltung der Kommunikationstechnologie. Die Entwicklung vom alten Wandtelefon mit Einsprechtrichter und Lautsprechertrichter zum Funktelefon heutiger Zeit ist auch begleitet von einer immer weniger verständlichen Formenentwicklung. Sprach man vor hundert Jahren noch in einen Trichter hinein, einem guten formalen Synonym für ein 'hineingeben' beziehungsweise 'herauskommen', so ist es heute ein nur gering differenzierter, abgerundeter Quader mit einer Tastatur. Die Einsprech- bzw. Schallöffnung ist auf einen winzigen Schlitz oder auf ein kleines Loch reduziert. Dieses Produkt zeigt nichts von seinem Innenleben nach Außen. An der Antenne kann man vielleicht erkennen, daß es sich um ein Gerät handelt, daß elektromagnetische Wellen ausstrahlt, mehr nicht.

Der Schalltrichter eines Grammophons zeigte deutlich, welche Funktion er hatte, nämlich Schallwellen zu verstärken und Schall  abzustrahlen. Heute sind akustische Boxen einer Musikanlage meistens rechteckige und quaderförmige, mit Stoff verkleidete Boxen, denen man ihr Innenleben nicht mehr ansieht.

Welche Form gibt man einem Radiowecker, der elektronisch und nicht mechanisch mit einer Glocke klingelt? Welche Form gibt man einem Computer, in dem Daten gespeichert sind, die in jedem Computer verschieden sind? Welche Form gibt man einem Videorekorder, der Magnetbänder abspielt und spult? 
Viele Fragen , die sich beliebig fortsetzen lassen, denn es gibt eine Unzahl von Produkten, deren elektronisches Innenleben keine oder eine nur schwer verständliche äußere Form bedingt. Es ist Aufgabe der Gestalter für diese Produkte eine Gestalt zu finden, eine Gestalt, die sich nicht nur an der technischen und zweckhaften, sondern auch an der semantischen Funktion eines Produktes orientiert, dann, wenn dies erforderlich ist.